Flucht aus Rügenwalde am 6. März 1945


Sowjetische Verbände rückten am 6. März rasch über Zanow auf Rügenwalde vor, stießen dann aber auf Widerstand. Gegen 20.00 Uhr des Tages befahl das LVB-Armeekorps die Räumung des Platzes Rügenwalde. Man befürchtete eine Einkesselung, da der Druck gegen Schlawe immer größer wurde. Nach Sprengung der Befestigungsanlage in Rügenwaldermünde, einer Brücke in der Stadt und aller wichtigen Versuchsanlagen, verließ die gesamte Besatzung gegen Mitternacht ihre Stellungen, setzte sich nach Osten ab und erreichte am 6,/7. März Stolpmünde.
Tage zuvor hatte die Kriegsmarine zwar noch 200 Marine-Flakhelferinnen mit kleinen Fahrzeugen über See abtransportieren können, eine planmäßige Evakuierung der Rügenwalder Bevölkerung fand jedoch nicht statt. Die Marine tat jedoch alles Erdenkliche, um ihren Abtransport sicherzustellen; sie orderte die beiden Navigationsschiffe Regulus und Zenith in den Hafen. Die Einschiffung der Hals über Kopf flüchtenden Rügenwalder auf diese beiden Schiffe war am 6. März um 22 Uhr abgeschlossen.

Die knapp 14jährige Schülerin Helga Greinke hatte das Glück, mit ihrer Mutter und Schwester auf der Regulus aus Rügenwalde zu entkommen. Über die letzten Tage in Rügenwalde, ihre Flucht nach Swinemünde und zurück nach Rügenwalde, schreibt sie:

Wir wohnten am Stadtrand von Rügenwalde in der Kopfbergsiedlung. Von unserer Wohnung aus hatten wir eine herrliche Aussicht, einmal bis zum nächsten Dorf Sackshöhe und auch auf einen Teil der Ostsee zwischen dem Kiefernwald und dem Darlowberg. Es war im Sommer wie im Winter ein schönes Bild mit den Schiffen auf der See. In diesem letzten Winter zogen tagtäglich die Pferdetrecks aus Ost- und Westpreußen über die Straße aus Richtung Sackshöhe. Es lag viel Schnee, und durch den Sturm über See gab es hohe Schneewehen. Viele Trecks machten Pause in Rügenwalde, viele zogen gleich weiter. In der Stadt wurden die Flüchtlinge verpflegt. Ich erinnere mich an Berge von Butterbroten, die wir streichen mußten. Unsere Hanse-Schule war schon im Jahr 1944 als Lazarett eingerichtet worden. Der Unterricht wurde dann umschichtig mit der Hagener Mittelschule in der Volksschule abgehalten, später in verschiedenen Geschäftsräumen rund um den Marktplatz. Ab Januar war dann der ganze Schulunterricht vorbei. Alle Räume wurden für die Flüchtlinge aus Ostpreußen gebraucht, und wir wurden eingesetzt zur Küchenhilfe im Lazarett, zum Brotestreichen, zum Austeilen heißer Getränke oder auch zum Schneeschippen. Es ging in diesen Tagen nur darum, den Flüchtlingen zu helfen. Daß die Russen auch bis Rügenwalde kommen würden, daran haben zumindest wir Kinder im Januar noch nicht geglaubt. Es waren ja auch noch alle Bewohner da. Ein Schulkamerad hat mir später einmal erzählt, die Russen stünden schon auf der anderen Seite der Wipper, da haben wir immer noch geglaubt, das schaffen die nie, darüber zu kommen.
Da wir ja gleich an der Landstraße wohnten, hatten wir oft Flüchtlinge zum Übernachten. Diese haben dann meiner Mutter immer wieder gesagt, sie solle sich auch Gedanken machen, daß wir bald fort müßten. Wir haben dann auch überlegt, wo könnten wir wohl etwas vergraben, aber das sollte ja auch niemand wissen. So haben wir in der Mühle in der Stolpmünder Straße Steine hochgehoben und ein großes Loch geschaufelt. Der Sand wurde in den gegenüberliegenden Stall getragen, so fiel es draußen im Schnee gar nicht auf. Eine große Kiste hatten wir, und dann haben wir in Taschen einige Sachen zur Stolpmünder Straße gebracht. Die volle Kiste wurde zugeschippt, Steine drauf und noch alle möglichen Gerätschaften darüber. Wir haben die Kiste später wieder ausgegraben.
Anfang März konnte man den Kanonendonner auch bei uns immer mehr hören. Oben vom Dachfenster aus sahen wir den Himmel abends ganz rot. Es war ein unheimliches Gefühl. Dazu die Berichte der Flüchtlinge aus Ostpreußen, die schon unter den russischen Truppen gelitten hatten und dann doch noch freigekämpft worden waren. Ich wollte nun auch nur noch fort, ich hatte fürchterliche Angst vor den Russen bekommen. Meine Mutter aber scheute noch immer den Seeweg, da ja kurz vorher die Wilhelm Gustloff untergegangen war. Am 2. März 1945 durften die Bewohner von Rügenwalde auch offiziell die Stadt verlassen. Es blieb damals nur noch der Seeweg, aber es fehlten die Schiffe.
Am 6. März, dem Geburtstag meiner Schwester, hörte ich vormittags, es sollten noch Schiffe unseren Hafen anlaufen. Meine Schwester und ich haben unsere Mutter so gebeten, auch mit uns zum Hafen zu gehen. Sie wollten mit uns zu Verwandten in den Kreis Stolp. Da aber wären wir zu der Zeit gar nicht mehr hingekommen. Also machten wir uns auf den Weg zur Münde mit Bettsack, Rucksack und großer Tasche. Die Flüchtlingstrecks kamen uns nun wieder aus Osten entgegen, denn der Russe stand inzwischen kurz vor der Stadt von Westen her.
Am Hafen standen viele hundert Menschen von der Mole bis hinter die Zugbrücke. Wir mußten auch schon hinter der Brücke bleiben. Von Schiffen war nichts zu sehen, und wenn, dann fuhren sie weit draußen auf See vorbei. Die Bewohner von Rügenwalde-Münde waren auch alle fort. Sie waren mit den Fischkuttern abgefahren.
Die Zeit des Wartens verging sehr langsam, es war zudem sehr, sehr kalt. Ab und zu liefen noch kleine Gruppen deutscher Soldaten über die Zugbrücke Richtung Osten. Kampfhandlungen gab es keine mehr, die Russen schossen immer nur Leuchtkugeln hoch, gar nicht weit vom Hafen entfernt. Am späten Nachmittag wurden wieder Schiffe gesichtet, und zwei davon nahmen Kurs auf unseren Hafen. Alles stand nun voller Erwartung da, aber würden auch alle mitkommen? Für die Menschen hinter der Brücke fast aussichtslos. Aber dann schoben sich die Schiffe rückwärts durch die Molen. Das war auch nicht ganz einfach bei dem herrschenden Seegang. Dann ging die Zugbrücke hoch, und die Regulus machte genau vor uns fest. Direkt vor uns wurde der Laufsteg aufgelegt, und wir gingen fast als erste auf das Schiff. Wir haben dadurch unsere Sachen alle mitbekommen.
Durch das Fenster konnten wir aber sehen, daß viele Gepäckstücke, die auf das Schiff geworfen werden sollten, dann aber im Wasser landeten.
Auf dem Schiff waren sehr viele Ostpreußen, die Pferd und Wagen in Rügenwalde stehen ließen, um nur mit dem Schiff wegzukommen. Es war schon sehr dunkel, als wir den Hafen verließen. Die Fenster waren alle schon von außen abgedichtet. Am Motorengeräusch merkten wir, daß das Schiff Fahrt aufgenommen hatte. Als wir die Molen hinter uns hatten und die offene See erreichten, wurde das Schaukeln stärker. Nicht lange danach gab es die ersten Seekranken.
Doch alle, die auf dem Schiff waren, fühlten sich sicher und waren froh, noch aus Rügenwalde gerettet worden zu sein. An Bord unseres relativ kleinen Schiffes sollten sich über 900 Personen befunden haben. Die Fahrt dauerte fünf Tage bis Swinemünde. Wir wurden dort in der Tirpitzschule untergebracht. In den folgenden Tagen gab es öfter Fliegeralarm, aber keinen großen Angriff.
Bis dann am 12. März der Großangriff folgte. Es war die Hölle. Der Schulhof der Tiripitzschule war nach dem Angriff ein großer Krater. Unser Gepäck, das wir aus Rügenwalde gerettet hatten, war mit Steinen und Mörtel zugedeckt.
Wieder begann die Flucht. Wir landeten schließlich in Grimmen, wo wir von den Russen überrollt wurden. Am 20. Mai 1945 mußten wir Grimmen verlassen. Meine Mutter, meine Schwester und ich sind dann mit einem Handwagen losgezogen. Drei Wochen waren wir unterwegs, bis wir dort wieder ankamen, wo wir die Flucht begonnen hatten, in Rügenwalde. Erst am 14. November 1946 wurden wir ausgewiesen.

Quelle: Schön, Heinz: Die Letzten Kriegstage, Ostseehäfen 1945, Stuttgart Motorbuch 1995

 
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erstellt von Margret Ott Letzte Aktualisierung Dienstag, 16. Dezember 2003